Rückkehr der Franzose aus Rußland: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 15. Mai 2019, 20:12 Uhr
Die Rückkehr der Franzosen aus Rußland
Endlos waren die Truppenzüge gewesen, Tag für Tag ohne Aufhören hatte sich die Masse durch die Straßen der Stadt gewälzt, nie hatten die Leute ein so ungeheures Heer gesehen, alle Völker Europas, jede Art von Uniformen, Hunderte von Generalen. Die Riesenmacht des Kaisers war tief in die Seelen gedrückt, das kriegerische Schauspiel mit seinem Glanze und seinen Schrecken füllte noch die Phantasie. Aber auch die unbestrittene Erwartung eines furchtbaren Verhängnisses. Einen Monat hatte der endlose Durchzug gedauert, wie Heuschrecken hatten die Fremden von Kolberg bis Breslau das Land aufgezehrt. Denn schon im Jahre 1811 war eine Mißernte gewesen, kaum hatten die Landleute Samenhafer erspart; den fraßen 1812 die französischen Kriegspferde; sie fraßen den letzten Halm Heu, das letzte Bund Stroh, die Dörfer mußten das Schock Häckselstroh mit 16 Talern, den Zentner Heu mit 2 Talern bezahlen. Und gröblich, wie die Tiere, verzehrten die Menschen. Vom Marschall bis zum gemeinen Franzosen waren sie nicht zu sättigen. König Hieronymus hatte in Glogan, keiner großen Stadt, täglich 400 Talern zu seinem Unterhalte erpreßt. Die Offiziere hatten von der Frau des armen Dorfgeistlichen gefordert, daß sie ihnen die Schinken in Rotwein koche; den fettesten Rahm tranken sie aus Krügen, auch der Gemeine bis zum Trommler hatte getobt, wenn er des Mittags nicht zwei Gänge erhielt; wie Wahnsinnige hatten sie gegessen. Schon damals indes ahnten das Volk und die Franzosen selbst, daß sie so nicht zurückkehren würden.
Aber was jetzt zurückkehrte, das kam kläglicher, als einer im Volk geträumt hatte. Es war eine Herde arme Sünder, die ihren letzten Gang angetreten hatten, es waren wandelnde Leichen. Ungeordnete Haufen aus allen Truppengattungen und Nationen zusammengesetzt, ohne Kommandoruf und Trommel, lautlos wie ein Totenzug nahten sie der Stadt. Alle waren unbewaffnet, keiner beritten, keiner in vollständiger Montur, die Bekleidung zerlumpt und unsauber, aus den Kleidungsstücken der Bauern und ihrer Frauen ergänzt. Was jeder gefunden, hatte er an Kopf und Schultern gehängt, um eine Hülle gegen die markzerstörende Kälte zu haben: alte Säcke, zerrissene Pferdedecken, Teppiche, frisch abgezogene Häute von Katzen und Hunden. Man sah Grenadiere in großen Schafpelzen, Kürassiere, die Weiberröcke wie spanische Mäntel trugen. Nur wenige hatten Helm oder Tschako, jede Art Kopftracht trugen sie, bunte und weiße Nachtmützen, wie sie der Bauer hatte, tief in das Gesicht gezogen, ein Tuch oder ein Stück Pelz zum Schutz der Ohren darüber geknüpft, Tücher auch über dem unteren Teile des Gesichts. Und doch waren der Mehrzahl Ohren und Nasen erfroren und feuerrot, erloschen lagen die dunklen Augen in ihren Höhlen. Selten trug einer Schuh oder Stiefel, glücklich war, wer in Filzsocken oder weiten Pelzschuhen den elenden Marsch machen konnte. Viele waren die Füße mit Stroh umwickelt, mit Decken, Lappen, dem Felle der Tornister oder dem Filze von alten Hüten. Alle wankten auf Stöcke gestützt, lahm und hinkend. Auch die Garden unterschieden sich von den übrigen wenig, ihre Mäntel waren verbrannt, nur die Bärenmützen gaben ihnen noch ein militärisches Ansehen. So schlichen sie daher, Offiziere und Soldaten durcheinander, mit gesenktem Haupte, in dumpfer Betäubung. Aller waren durch Hunger und Frost und unsägliches Elend zu Schreckensgestalten geworden. Tag für Tag kamen sie jetzt auf der Landstraße heran, in der Regel sobald die Abenddämmerung und der eisige Winternebel über den Häusern lag. Gespensterhaft war das lautlose Erscheinen der Franzosen, entsetzlich wurden die Leiden, welche sie mit sich brachten. Die Kälte in ihren Leibern sei nicht fortzubringen, ihr Heißhunger sei nicht zu stillen, behauptete das Volk. Wurden sie in ein warmes Zimmer geführt, so drängten sie sich mit Gewalt an den warmen Ofen, als wollten sie hineinkriechen; vergebens mühten sich mitleidige Hausfrauen, sie von der verderblichen Glut zurückzuhalten. Gierig verschlangen sie das trockene Brot, einzelne vermochten nicht aufzuhören, bis sie starben. Bis nach der Schlacht bei Leipzig lebte im Volke der Glaube, daß sie mit ewigem Hunger vom Himmel gestraft seien. Noch dort geschah es, daß Gefangene in der Nähe des Lazaretts sich die Stücke toter Pferde brieten, obgleich sie bereits regelmäßige Kost erhielten. Noch damals behaupteten die Bürger, das sei ein Hunger von Gott. Einst hätten sie die schönsten Weizengarben ins Lagerfeuer geworfen, hätten gutes Brot ausgehöhlt, verunreinigt und auf dem Boden gekollert, jetzt seien sie verdammt, durch keine Menschenkost gesättigt zu werden.
Überall in den Städten der Heerstraße wurden für die Heimkehrenden Lazarette eingerichtet, und sogleich waren alle Krankenstuben überfüllt; giftige Fieber verzehrten dort die letzte Lebenskraft der Unglücklichen. Ungezählt sind die Leichen, welche herausgetragen wurden; auch der Bürger mochte sich hüten, daß die Ansteckung nicht in sein Haus drang. Wer von den Fremden vermochte, schlich deshalb nach notdürftiger Ruhe müde und hoffnungslos der Heimat zu. Die Buben auf der Straße aber sangen: “ Ritter ohne Schwert, Reiter ohne Pferd, Flüchtling ohne Schuh, nirgends Rast und Ruh. So hat sie Gott geschlagen mit Mann und Roß und Wagen! “ und hinter den Flüchtigen gellte der höhnende Ruf: “ Die Kosaken sind da! “ Dann kam in die flüchtige Masse eine Bewegung des Schreckens, und schneller wankten sie zum Tore hinaus.
Gustav Freytag
- 》Siehe auch: Wehrmacht in Sowjetunion (Moskau 1941, Stalingrad 1942/43)
- 》Antichrist ( Napoleon & Hitler / Verbrecher )